Kind in seelischer Not...

“Was wir sehen, bestimmt unser Handeln”

Dieser Satz von Gordon Neufeld ist mir im Laufe der Jahre in Fleisch und Blut übergegangen.

Es macht einen großen Unterschied, ob ich ein Kind sehe, dass sich einfach „unmöglich benimmt“, das „auf Streit aus ist“ oder das mich ärgern will, oder ob ich ein Kind sehe, das in Schwierigkeiten steckt und darum sich gerade nicht anders verhalten kann.

Ich denke da an Sina, die als Kleinkind schon ihren Vater verloren hat und in der Folge immer wieder mit massiven Trennungen konfrontiert ist.

Ja, sie ist ein herausforderndes, gefühlsstarkes Kind, hat einen sehr ausgeprägten Entdeckerdrang und ist dazu mit ihren sechs Jahren noch sehr unreif, hat noch keine gemischten Gefühle. Sie manövriert sich gern von Schwierigkeit zu Schwierigkeit, besonders in Gruppen und bekommt dadurch laufend negative Rückmeldungen. Wen wundert es, dass Sina total hibbelig ist und kaum stillsitzen kann?

Wir konfrontieren Kinder wie Sina gerne mit ihrem Fehlverhalten, wir lassen sie Konsequenzen spüren und bestrafen sie mit dem Entzug von dem was ihnen lieb ist oder mit dem Entzug von Privilegien (Medien bspw.). Dies tun wir in der Hoffnung, dass das Kind etwas daraus lernt und sich in der Folge anders verhält.

Und dann wundern wir uns, dass die kleine Sina offenbar eben nichts daraus zu lernen scheint. Also erhöhen wir die Konsequenzen und Auszeiten. Mehr Druck, mehr Trennung und damit leider auch mehr Alarm [Alarm beschreibt dieses Gefühl von „etwas ist nicht in Ordnung“, „etwas stimmt nicht“, oder auch „gleich passiert etwas“, also eine innere Unruhe und ständige Wachsamkeit.] … Und am Ende dieser Schleife stehen verzweifelte Eltern und Lehrpersonen und nicht selten schlussendlich eine Diagnose…

Was würde wohl passieren, wenn wir in solchen kleinen Sinas Kinder in seelischer Not sehen würden? Wenn wir sehen würden, dass Sina unter den gemachten Trennungserfahrungen leidet und ein sehr alarmiertes, vielleicht gar traumatisiertes Kind ist, auf jeden Fall aber ein Kind in seelischer Not?

Ich vermute, die Geschichte würde sich ganz anders entwickeln: Wir würden uns überlegen, was so ein Kind in Not braucht, um zur Ruhe zu kommen und weiter Reifen zu können, statt sein Verhalten zu managen und es dadurch noch mehr zu verunsichern und alarmieren. Und bestimmt würde uns diese Überlegung einen natürlichen Lösungsweg aufzeigen, ein Weg der in vielen Fällen auch ohne Medikamente auskommt.

Vielleicht würden wir auch sehen, dass Sina Dinge erleben musste, die Wunden hinterlassen haben. Und wir würden einen Weg suchen, wie wir helfen können, damit diese Wunden heilen dürfen.

Wie wäre es, wenn auch die Mama von Sina Unterstützung bekommen würde, damit sie mehr Kapazität für ihr Kind hat und immer mehr zum sicheren Felsen in der kindlichen Brandung werden kann? Vielleicht kämen noch 2, 3 fürsorgliche erwachsene Bezugspersonen dazu, die Sina so annehmen wie sie ist und sie in ihrer emotionalen Entwicklung und Reifwerdung unterstützen. Und vielleicht bekäme Sina ganz viel natürlichen (Spiel-) Raum, um ihren Entdeckerdrang auszuleben und ihre innere Spannung abbauen zu können.

Denn was Kinder in seelischer Not ganz besonders brauchen ist das, was alle Kinder so sehr brauchen: Bindung, weiche Herzen und ganz viel SpielRaum!

Das alles sehen wir, wenn wir die Not sehen, in der gewisse Kinder stecken.

Es ist mir wichtig, hier zu erwähnen, dass ich nicht grundsätzlich gegen Diagnosen bin oder insbesondere ADHS nicht negiere. Aber ich bin der Meinung, dass wenn wir gut hinsehen und uns bemühen „hinter die Kulisse“ zu schauen, wir in vielen Fällen andere, natürliche Lösungen und echte Hilfe für solche Kinder finden würden.

PS: Nach einer wahren Begebenheit, wobei der Name und der Kontext verändert wurden.

Angela Indermaur